Dienstag, 4. Januar 2011

Der „zivile Tod“ - Kriegsdienstverweigerer in der Türkei

Soldat, Deserteur oder »Geisteskranker« - das sind die Optionen, die einem türkischen Staatsbürger zur Verfügung stehen, wenn der Einberufungsbefehl zum Wehrdienst im Briefkasten liegt. Entkommen möchten ihm viele. Wer aus Gewissensgründen verweigert, lässt sich auf einen jahrelangen Kampf gegen den Staat ein – mit ungewissem Ausgang


Kriegsdienstverweigerer gibt es in der Türkei seit der Einführung der Wehrpflicht – noch zu osmanischer Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts. Doch erst seit den 1990er Jahren organisieren sie sich und fordern öffentlich ihre Rechte ein, die sie im türkischen Gesetz verankert sehen wollen. Über 200 Menschen haben bisher die Teilnahme am Militärdienst mit einer offiziellen Erklärung verweigert.

Obwohl das Recht auf Kriegsdienstverweigerung seit 1987 durch die Vereinten Nationen als Menschenrecht anerkannt ist und Kriege weltweit zunehmend durch Berufs- und Privatarmeen geführt werden, hält der türkische Staat an einem sechs- bis fünfzehnmonatigen Pflichtdienst für alle männlichen Staatsbürger fest. Erst diese Zeit mache den Jungen zum Mann und den Mann zum Bürger, glaubt die Mehrheit.

Das Exerzieren wird in der Türkei schon in der Schule geübt; die Armee ist laut Umfragen die Staatsinstitution, der die Bevölkerung am meisten vertraut. Die Ursache hierfür ist nicht nur der seit Jahrzehnten andauernde Kriegszustand in den kurdischen Gebieten, der als Spielball außen- und innenpolitischer Interessen ein stetiges Einsatzgebiet der türkischen Armee darstellt. Wer aus Gewissensgründen dem Militär fern bleiben möchte, gilt dem Staat als Krimineller und der Gesellschaft als Verräter – ähnlich wie in anderen Staaten in permanentem Kriegszustand wie z.B. Israel. Trotz eines Urteiles im Jahr 2006, in dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch noch feststellte, dass die Türkei im Falle des Verweigerers Osman Murat Ülke gegen Artikel 3 der Menschenrechtskonvention – das Folterverbot – verstoßen habe, hat sich an diesem Zustand bis heute nichts geändert. Als »zivilen Tod« bezeichnete der EGMR den gesellschaftlichen Status der türkischen Verweigerer.


Tayfun Gönül und Vedat Zencir, die sich im Jahr 1989 als Erste öffentlich weigerten, den Militärdienst anzutreten, gründeten drei Jahre später mit einigen anderen die Gruppe »Savaş Karşıtları« (Kriegsgegner). Ihr Gesinnungsgenosse Osman Murat Ülke wurde als Erster aufgrund seines zivilen Ungehorsams verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt. Bis heute ist der Status der Kriegsdienstverweigerung zivilrechtlich nicht existent. Die auf die Verweigerung folgende Odyssee aus Gefängnisaufenthalten, Folter, Prozessen, wiederholten Festnahmen, Nötigung und Einschüchterung haben inzwischen zahlreiche weitere Verweigerer durchgemacht. Auch nach der Gefängnisentlassung bleibt ihr Status ungeklärt und somit prekär, sie leben quasi-illegalisiert und haben keinen Zugang zu sozialen Diensten.

Wer nicht am Militärdienst teilnehmen möchte, dem bietet sich derzeit als einziger legaler Ausweg ein medizinisches Gutachten, das die psychosoziale Untauglichkeit des Betreffenden feststellt – auf Türkisch bekannt als »Fäulnisgutachten« (cürüklük raporu). Von Fußballclubs wird dies zuweilen zur Freistellung ihrer Nachwuchshoffnungen genutzt – wie vor einigen Monaten die Veröffentlichung interner Dokumente enthüllte. Andererseits kann auch Homosexualität, unter Inkaufnahme der erniedrigenden Begutachtungsprozedur, als »psychische Krankheit« angerechnet werden. Im Ausland lebende Staatsbürger haben die Möglichkeit, sich durch die Zahlung eines Betrages zwischen 5000 und 7000 Euro »freizukaufen«, müssen jedoch eine 21 Tage dauernde Theorieausbildung durchlaufen.

Nun wird seit einigen Monaten eine Reform der Wehrpflicht diskutiert. Dabei geht es vor allem um die Vereinheitlichung der Ausbildungslänge für alle – bisher verkürzt eine abgeschlossene Berufsausbildung die Zeit beim Militär um die Hälfte. Unabhängig davon kündigte die Regierung die Bildung einer speziellen Berufsarmee speziell für den Einsatz in den kurdischen Konfliktgebieten ein.

Die Bewegung der Kriegsgegner macht regelmäßig durch öffentliche Aktionen in Städten auf sich aufmerksam, besonders jährlich am 15. Mai, dem Tag der Kriegsdienstverweigerung. Im September 2010 wurde sie in Istanbul mit dem Hrant Dink-Preis ausgezeichnet. Derweil ist der im August dieses Jahres inhaftierte Kriegsdienstverweigerer Inan Süver weiterhin in Gefangenschaft.

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