Samstag, 16. April 2011

Schiiten in Saudi-Arabien: „Autoritäre Monarchen können nie Stabilität garantieren“

Seit Februar tobt auch im Golfstaat Bahrain ein Volksaufstand. Mit Hilfe seiner arabischen Nachbarländer, allen voran Saudi-Arabiens, schlägt das Königshaus die Protestbewegung gewaltsam nieder. Mindestens 30 Menschen wurden bei den Unruhen getötet, etwa hundert gelten vermisst. Etwa 500 Oppositionelle werden als politische Gefangenen festgehalten. Allein in den letzten zehn Tagen sind nach staatlichen Angaben vier von ihnen in der Haft gestorben. Der Großteil der Opfer sind Schiiten.

Die Aufstandsbewegung in Bahrain bewegt auch die schiitische Minderheit in Saudi-Arabien, die größtenteils in der Ostprovinz, nahe der Grenze zum kleinen Nachbarn lebt. Auch dort gehen Schiiten auf die Straße um für ihre Rechte zu protestieren und ihre Solidarität mit den Bahrainis zu bekunden.

Wir haben zwei wichtige Vertreter der saudischen Schiiten nach ihrer Einschätzung der Entwicklungen in der Region befragt. Jafar al-Shayeb ist Publizist, politischer Aktivist und gewählter Vorsitzender des Stadtrats von Qatif in Saudi-Arabiens Ostprovinz. Tawfiq Alsaif ist ehemaliger Generalsekretär der islamistischen schiitischen Oppositionsbewegung „Organisation der Islamischen Revolution auf der Arabischen Halbinsel“ (OIR).

Wir haben beide Interviewpartner unabhängig voneinander befragt. Da wir beiden jedoch die gleichen Fragen stellten, haben wir uns entschlossen beide Interviews gemeinsam zu veröffentlichen. Die Fragen stellten Christoph Dinkelaker und Christoph Sydow.


Wie sehen die Beziehungen zwischen Schiiten in Saudi-Arabien und Bahrain aus? Gibt es Familien die über beide Länder verstreut leben?

Jafar al-Shayeb: Es gibt sehr enge Beziehungen zwischen Menschen in der Ostprovinz von Saudi-Arabien und Bahrain, weil sowohl Sunniten als auch Schiiten Familienzweige in beiden Ländern haben. Historisch war die gesamte Region lange Zeit eine Einheit, bekannt als das Reich Dilmun. Die aktuellen Grenzen gibt erst seit einem knappen Jahrhundert. Deshalb ist die Mobilität zwischen dem Osten Saudi-Arabiens und Bahrain sehr groß.Es gibt viele Mischehen zwischen beiden Gesellschaften.

 Tawfiq Alsaif: Historisch betrachtet war der Name Bahrain mit der gesamten Küstenlinie von Südkuwait bis Katar verbunden, einschließlich der Insel Bahrain und der saudi-arabischen Ostprovinz. Etwa seit dem 16. Jahrhundert wird der Begriff nur noch für die Insel verwendet. Während der letzten zwei Jahrhunderte sind viele Menschen zwischen der Insel und der Küstenregion hin und her gereist. Deshalb macht der Dawasir-Stamm einen Großteil der sunnitischen Bevölkerung sowohl auf der Insel als auch entlang der saudischen Küste aus. Hunderte Familien – Sunniten und Schiiten – haben Zweige in beiden Gebieten. Seit 1986 sind beide Staaten durch einen 30 Kilometer langen Damm verbunden, was zu einer noch engeren Verbindung zwischen beiden Gesellschaften geführt hat. Die familiären Verbindungen haben sich dadurch jedoch nicht signifikant verstärkt. Das liegt an offiziellen Restriktionen für Hochzeiten zwischen Saudis und Ausländern, die gegen Schiiten besonders strikt durchgesetzt werden.

Blickt man auf die drastische Reaktion des saudischen Königsfamilie auf den Aufstand in Bahrain, dann sieht es ganz so aus, als fürchte sie eine Ausweitung der Proteste auf ihr eigenes Reich. Ist das realistisch? Gibt es enge Verbindungen zwischen der Opposition in Bahrain und den Schiiten in der Ostprovinz?

Jafar al-Shayeb: Ich denke die Reaktion auf die Entwicklungen in Bahrain hat zwei wichtige Komponenten: Zum einen ist das politische System Bahrains der saudischen Monarchie sehr ähnlich und jeder Wandel bedroht zweifellos das monarchische System zu Hause. Der zweite Faktor ist religiös. Die sunnitische Dominanz ist eine Gefahr, besonders mit Blick auf die Entwicklungen im Irak und im Libanon. Sicher wird jeder positive Wandel im politischen System in Bahrain automatisch zu lauter werdenden Forderungen nach politischer Teilhabe in Saudi-Arabien führen, ganz besonders unter den Schiiten.

Tawfiq Alsaif: Ich denke Saudi-Arabien war aus mehreren Gründen besorgt. Da ist zum Einen eine mögliche Rolle des Iran in Bahrain, die der im Irak oder im Libanon ähneln könnte. In beiden Staaten hat der Iran seine Position auf Kosten der Saudis gestärkt. Zum Zweiten hat Saudi-Arabien zu Beginn des Aufstandes den König von Bahrain angewiesen eine zurückhaltende Politik zu verfolgen und einige Reformen einzuführen. Danach, nachdem die Protestierenden den Sturz des Regimes forderten, veränderte sich diese Position. Ich weiß, dass diese Entwicklung in Riyadh als Zeichen an den Iran erklärt wurde. Der Sturz des Systems ist inakzeptabel, weil er zum Kollaps des Golfkooperationsrats als regionalem Sicherheitssystem führen würde. Ich bin mir hinsichtlich der schiitischen Verbindungen unsicher, zumindest im technischen Sinne, denn es gab Proteste in Qatif zwei Wochen bevor sie in Bahrain begannen. Was die Beziehungen zwischen Oppositionsgruppen in Bahrain und Saudi-Arabien betrifft, so haben besonders al-Wefaq und die ehemalige Islahia-Gruppe enge Verbindungen. Beide Gruppen sind moderat und glauben an die Betätigung innerhalb des gegenwärtigen politischen Systems.

Wie beeinflussen die Ereignisse in Manama und anderswo die schiitische Gemeinschaft in Saudi-Arabien? Wie ist Ihre Position zur Intervention des Golfkooperationsrates (GCC) in Bahrain?

Jafar al-Shayeb: Tausende Menschen demonstrierten in der Ostprovinz aus Solidarität mit den Bahrainis und gegen die militärische Intervention in Bahrain. Die GCC-Intervention war inakzeptabel, weil sie gegen zivile Protestierende gerichtet war, obwohl die GCC dazu da ist, ihre Mitgliedsstaaten vor ausländischen Angriffen zu schützen.

Tawfiq Alsaif: Wie erwartet wurde die Militärintervention unter den saudischen Schiiten als konfessionell motiviert aufgefasst. In Qatif gab es an einem Tag eine Demonstration zur Unterstützung der Bahrainis. Meine eigene Schlussfolgerung lautet, dass die Saudis, einschließlich der Schiiten, mehr als alle anderen von der Revolution in Ägypten berührt wurden.Das war offensichtlich in den Slogans der Demonstranten ebenso wie in ihrer Haltung, ganz besonders gegenüber den Sicherheitskräften. In Qatif wurden keine religiösen Sprechchöre gerufen. Hauptsächlich wurden politische Reformen gefordert, was innerhalb der saudischen Reformbewegung üblich ist.

Was sagen Sie zu Vorwürfen, dass die Unruhen in Bahrain vom Iran geschürt werden?

Jafar al-Shayeb: Ich denke nicht, dass die Iraner wegen ihrer eigenen internen Probleme derzeit dazu bereit sind das Risiko einzugehen, in Bahrain zu intervenieren. Sie werden eine bessere Position durch eine politische Intervention und nicht durch eine militärische Einmischung erlangen. So ähnlich haben sie es ja zum Beispiel auch im Irak gemacht.

Tawfiq Alsaif: Nach meinem Kenntnisstand gibt es so viele Motive, von denen jeder einzelne Proteste in Bahrain auslösen kann. Dennoch kann ich eine mögliche Rolle des Iran nicht ausschließen. Der Iran ist erpicht darauf seinen Einfluss am Golf auszubauen, auch wenn das die Auflösung der einheimischen Ordnung verlangt. Als Beobachter denke ich, dass der Iran versucht hat den Aufstand nach seinem eigentlichen Ausbruch zu beeinflussen, nicht jedoch im Vorfeld. Sie haben versucht Katars Methode zu kopieren, das al-Jazeera als Brückenkopf nutzte um die Revolutionen in Ägypten und Jemen zu beeinflussen. Der allgemeine Eindruck ist hier, dass die iranische Rolle beim Aufstand in Bahrain nicht hilfreich war.

Gibt es irgendwelche Hoffnungen bezüglich der angekündigten Kommunalwahlen in Saudi-Arabien? Sehen Sie die Möglichkeit zur Bildung einer starken, möglicherweise sunnitisch-schiitischen Opposition bis zum Wahltag?

Jafar al-Shayeb: Die Kommunalwahlen in Saudi-Arabien werden im September dieses Jahres stattfinden und die Registrierung beginnt am 23. April. Die religiöse Spannung ist im Moment sehr groß und könnte die anstehenden Wahlen beeinflussen – besonders in religiös gemischten Gebieten wie Dammam und al-Ahsa.

Tawfiq Alsaif: Die Lokalräte haben keine politische Macht. Ihre rechtliche Position lässt das nicht zu. Die Kommunalwahlen werden von den gesellschaftlichen Gruppen genutzt um ihre Positionen als legitime Vertreter zu festigen. Eine mögliche sunnitisch-schiitische Koalition wurde auf den Weg gebracht. Zwei Petitionen, die im Februar veröffentlicht wurden wurden von 9000 Menschen unterzeichnet, die alle Gesellschaftssichten repräsentieren. Eine wurde von liberalen Intellektuellen initiiert, die andere von religiösen Führern. Beide teilen sich etwa 300 Unterzeichner, auf beiden findet man Sunniten und Schiiten, religiöse und liberale Aktivisten, Männer und Frauen, und so weiter. Beide haben gemeinsame Themen, den Ruf nach einer konstitutionellen Monarchie und bürgerlichen Freiheiten, die Zulassung von Nichtregierungsorganisationen und öffentlicher Teilhabe. Diese Forderungen sind der kleinste gemeinsame Nenner aller saudischer Reformer.

Wie bewerten Sie die Position von USA und EU hinsichtlich der aktuellen Lage in Bahrain und der Ostprovinz? Während die Diskriminierung von Minderheiten in anderen Teilen der Welt von USA und EU regelmäßig thematisiert wird, fordern nur wenige hochrangige Politiker Taten von der saudischen Regierung. Sehen Sie da doppelte Standards?

Jafar al-Shayeb: Es ist gewiss, dass USA und EU keine faire Position in der Region einnehmen und man kann registrieren, dass sie ihre Augen vor den Grausamkeiten und Menschenrechtsverstößen unter dem Vorwand der Stabilität und der Garantie ihrer Interessen in der Region lange Zeit verschlossen haben. Dennoch lehrt uns die Geschichte, dass Stabilität nicht ohne die Herrschaft des Rechts und ohne die Gewährung grundlegender Menschenrechte garantiert werden kann. Autoritäre Monarchen können niemals Stabilität garantieren und die Bedürfnisse ihres erfüllen. Sie stellen ihre Bürger mit Bestechungsgeldern oder der Anwendung von Gewalt ruhig. Das kann nicht ewig so andauern. Die westliche Welt hat die moralische Verantwortung die Menschenrechte in der Region zu verteidigen und sich jeder Verletzung dieser Rechte entgegenzustellen.

Tawfiq Alsaif: Die amerikanische Position hinsichtlich der religiösen Freiheiten in Saudi-Arabien ist hilfreich. Die Position der EU ist noch nicht klar geworden. Wir wissen, dass sie Erwartungen haben, aber ihre tatsächliche Rolle bei der Unterstützung von Reformen in unserem Land sieht nicht sehr aktiv aus. Sicher können USA und EU mehr tun, besonders in den aktuellen Umständen. Ihr riesiges Interesse am Golf macht sie teilweise verantwortlich für die langfristige Stabilität in der Region. Dies kann nur gesichert werden durch ein politisches System, das auf öffentlicher Zustimmung basiert.

Hat sich die Lage der Schiiten in Saudi-Arabien in den letzten Jahren eher verbessert oder verschlechtert?

Jafar al-Shayeb: Es hat Verbesserungen in vielen Bereichen gegeben, die mit den Schiiten in Saudi-Arabien zusammenhängen, besonders was religiöse und kulturelle Freiheiten betrifft. Dennoch wurde auf vielen strategisch wichtigen Politikfeldern bislang nicht gehandelt, gerade bei den Bürgerrechten. Es gibt immer noch eine diskriminierende Politik, die Schiiten in hochrangigen Regierungspositionen verhindert und es ihnen in vielen Ministerien unmöglich macht zu arbeiten. Lokale Gouverneure spielen eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung dieser Politik. Die Schiiten haben andererseits viele alternative Lösungen und Vorschläge vorgelegt, zu denen die „Nationale Integrationsagenda“ gehört, die hauptsächlich darauf abzielt, die schiitischen Bürger ins politische System zu integrieren. Bislang hat es keine ernsthafte Antwort von Seiten der Regierung gegeben.

Tawfiq Alsaif: Vor fünf Jahren sah es noch etwas schlechter aus.

Wie sahen die Proteste in der Ostprovinz konkret aus?

Jafar al-Shayeb: In vielen Gegenden wie der Stadt Qatif und vielen umliegenden Städten und auch in der Region al-Ahsa südlich von Dammam gab es Proteste. Die Teilnehmerzahl war von Zeit zu Zeit unterschiedlich, erreichte aber ihren Höhepunkt nachdem die saudischen Truppen in Bahrain einmarschierten. In Sprechchören forderten sie den Abzug der Armee und den Respekt vor dem freien Willen des bahrainischen Volkes. Außerdem verlangten sie die Freilassung politischer Gefangener aus der Region, die seit Jahren ohne Prozess inhaftiert sind.

Tawfiq Alsaif: Hinsichtlich ihrer Anliegen waren die Proteste ziemlich begrenzt. Trotz der konfessionellen Hintergründe war das eigentliche Motiv die Unterstützung der sogenannten vergessenen neun Gefangenen. Diese Menschen befinden sich seit 16 Jahren ohne offizielle Anklage oder Prozess in Haft. Die Familien der Häftlinge hatten zu den Demonstrationen aufgerufen um Druck auf die Regierung auszuüben sie entweder freizulassen oder ihnen den Prozess zu machen.

Was sollten unsere Leser noch wissen?

Jafar al-Shayeb: Die Region durchlebt derzeit große Veränderungen und die Welle des Wandels bewegt sich in unterschiedliche Richtungen. Die Menschen in dieser Region fordern ihre Freiheiten und ihre Teilnahme in Regierungen ein, die sich verantworten müssen und die ihre Rechte respektieren. Mehr Gewalt wird in der Region erzeugt und die Hardliner könnten die Entwicklungen in eine gewaltsame Richtung steuern, wenn keine positiven und durchgreifenden Reformen durchgeführt werden.

Tawfiq Alsaif: Ich bin ein wenig besorgt. Unser Land steht vor ernsthaften Herausforderungen. Die politischen Reformen werden dringend benötigt um die Stabilität der Nation zu erhalten. Leiter zeigt die herrschende Elite diesbezüglich überhaupt keinen Respekt. Diese Sorglosigkeit erzeugt ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit unter der jungen Generation und der Mittelschicht.

Weitere Hintergrundinformationen zur Lage der Schiiten in Saudi-Arabien und anderen spannenden Themenfeldern kann man im Sammelband "Saudi-Arabien - Ein Königreich im Wandel?" nachlesen. 

1 Kommentar:

D@niel hat gesagt…

Interessantes Interview, mehr davon!

Auch die zwei Interviewpartner in einrm Wisch fand ich gut, wobei ich immer wieder verwechselt habe von welcher Position aus welcher sprach, wobei man das ja an einigen Textstellen wieder deutlich erkennen konnte... ;-)