Sonntag, 20. März 2011

"Nieder mit dem konfessionellen System!" - Systemfrage in Beirut

Von Björn Zimprich und Naomi Conrad

Beirut(bz/nc) - Erstmals seit Jahrzehnten demonstrieren wieder Zehntausende im Libanon gegen das starre konfessionelle System. Christen, Drusen und Muslime marschierten vom Sassine-Platz im christlichen Stadtteil Achrafiyeh zum Innenministerium in Sanayeh, im mehrheitlich muslimischen Westteil der libanesischen Hauptstadt. Die gemeinsame Forderung der etwa 20.000 Demonstranten: "Nieder mit dem konfessionellen System!"

“Das ganze System hier ist einfach Scheiße”, sagt ein schiitscher Sheikh, der fünfzehn Jahre in Deutschland gelebt hat. “Ich bin zu Hause Muslim, Religion hat in der Politik nichts zu suchen.“ Eine junge Mutter aus Beirut sieht das ähnlich. Sie schiebt ihre fünfjährige Tochter, der sie eine libanesische Flagge auf die Wange gemalt hat, für ein Bild vor die Kamera. „Wir wollen eine echte Demokratie für unsere Kinder. Damit sie in einem Land aufwachsen, in dem die Religion keine Rolle spielt.“
Ein schiitischer und ein sunnitischer Geistlicher demonstrieren gemeinsam für ein säkulares System im Libanon
Die Demonstranten sind bunt gemischt, viele junge Familien mit Kinderwagen, Christen und Drusen, Schiiten und Sunniten. Laut Angaben der Organisatoren haben sich die Gewerkschaften und viele Nichtregierungsorganisationen ebenfalls den Demonstrationen angeschlossen.

Ziel ist der Systemwechsel

Die Demonstration fordern nicht weniger als den Sturz des libanesischen politischen Systems. Sie unterscheidet sich dadurch deutlich von anderen Protesten im Libanon. Sie stellen die Systemfrage und lassen sich nicht einem der großen politischen Blöcke im Libanon, 8. und 14. März, zuordnen. "Wir sind unparteiisch, das ist die Hauptidee hinter den Protesten"; sagt einer der Organisatoren.

Etwa 20.000 Libanesen nahmen an der Demonstration am Sonntag teil
Das politische System des Libanon gliedert sich nämlich nach einem strengen Proporzsystem. Bestimmte politische Ämter können nur von Personen mit einer jeweilig definierten Religionszugehörigkeit besetzt werden. Der libanesische Präsident muss so beispielsweise immer maronitischer Christ sein, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim und der einflussreiche Ministerpräsident wird nur von sunnitischen Muslimen besetzt.

"Das Volk will den Sturz des konfessionellen Systems", steht auf diesem riesigen Transparent
Auch die entsandten Parlamentsabgeordneten folgen in den jeweiligen Wahldistrikten detaillierten Listen religiös-konfessioneller Zugehörigkeit. Wie viele Sunniten oder melikitische Christen, Schiiten, Drusen oder maronitische Christen aus einem bestimmten Gebiet ins nationale Parlament entsandt werden, steht so schon vor der Wahl fest.

Ursprünglich war dieses System dazu gedacht, durch eine umfassende Machtbeteiligung aller religiösen Gruppen Stabilität im multireligiösen Zedernstaat herzustellen. 18 religiöse Gruppen erkennt der libanesischen Staat offiziell an und werden formal vom System repräsentiert.

"Es reicht!", steht auf dem T-Shirt dieses Demonstranten
Dieses System hat sich jedoch als extrem unflexibel erwiesen. Demographische Veränderungen der Bevölkerung werden nicht umgesetzt. Zudem dominieren religiöse Autoritäten z.B. über das Familienrecht das soziale Leben im Libanon. Hochzeiten zwischen Angehörigen verschiedene religiöser Gruppen sind rechtlich nicht vorgesehen. Meist muss einer der Ehepartner zur Religion seines Partners konvertieren.

Im Libanon finden zwar transparente Wahlen statt, aber innerhalb der jeweiligen Konfession haben häufig über Jahrzehnte die gleichen Familien die Macht inne. Manche sprechen über den Libanon als ein System mit 18 Diktatoren. "Die beiden politischen Blöcke lassen einfach keinen Freiraum für nichtkonfessionelle Meinungen", sagt einer der Organisatoren der Demonstration, der erklärt, dass die Ereignisse in der Region den Anstoß zur Demonstration gegeben hätten. „Klar, die Revolutionen in Ägypten und Tunesien haben uns motiviert, ebenfalls was zu verändern“, sagt er.

Parteiflaggen suchte man auf der Kundgebung vergeblich
Aran Oskania, der in der Finanzbranche arbeitet, sieht in den Demonstrationen die Möglichkeit das ganze System abzuschaffen. „Zum ersten Mal glaube ich wirklich, dass wir Änderungen schaffen können.“ Er glaubt, dass die ganze politische Elite abgeschafft werden muss. „Die sind doch alle Kriminelle und Kriegsverbrecher. Die gehören alle vor ein Tribunal.“ Aran ist Mitglied der Grünen Partei, trägt jedoch die libanesische Flagge, so wie viele anderen bei den Demonstrationen.

Mehrere hundert Meter lang war der Demonstrationszug, der am Sonntag durch Beirut zog.
Das ist so gewollt, erklärt Bassem Chit, der für eine Nichtregierungsorganisation arbeitet. „Wir wollen keine Symbole irgendwelcher Parteien hier.“ 150 Freiwillige helfen bei der Durchführung und sorgen für Ordnung. "Sobald die irgendwelche politischen Flaggen sehen, springen die ein." Chit erzählt, dass die Organisatoren Drohungen erhalten hätten. „Anonyme Anrufe, etwa, wir werden eure Beine brechen, wenn ihr nicht aufhört.“ Denn die beiden politischen Allianzen hätten vergeblich versucht, die Demonstrationen zu vereinnahmen. Er glaubt allerdings nicht, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen könnte. „Die wissen, dass sie die Demonstrationen nicht angreifen können. Dann würde es zu einer politischen Krise kommen.“

Demonstrationen über die Green Line hinweg

Von Balkons und Cafés aus beobachten die Bewohner Beiruts die Demonstrationen, die durch die Hauptstadt ziehen. "Schon wieder eine Demonstration"; sagt der amüsierte Fahrer eines Müllwagens der Firma Sukleen: "That's Lebanon." Allerdings unterscheidet sich die Demonstration von anderen: Eine Besonderheit der Proteste der letzten Wochen ist, dass sie nicht im Stadtzentrum stattfinden. Versammelt wird sich also nicht in der Nähe des Serails - dem Palast, in dem der Ministerpräsident residiert - oder am bekannten Märtyrer-Platz. Sie demonstrieren in den Wohngebieten der Hauptstadt und sie überschreiten immer die ehemalige Green Line. Damit betreten die Demonstranten Neuland. Als Green Line bezeichnete man die Kampflinien, die Beirut in einen christlichen Ost- und einen muslimischen Westteil teilte. Im Bereich der Green Line bekämpften sich die verschiedene Milizen über Jahre. Auch nach mehr als 20 Jahren nach Ende des Bürgerkrieges lebt diese Trennlinie in den Köpfen vieler Libanesen weiter. Die Demonstrationen haben damit hohe symbolische Bedeutung.
Im nächsten Monat wollen wieder zehntausende Libanesen für die Abschaffung des konfessionalistischen Systems im Libanon demonstrieren
Aber die Demonstranten wollen nicht nur Symbole setzen. Politische Veränderungen sind das Ziel. Die Organisatoren haben sich von den Ereignissen in der Region inspirieren lassen und wollen die solange demonstrieren, bis sich etwas ändert: „Wir sind gerade in der Mobilisierungsphase. Das kann schon eine Weile dauern, das letzte Mal gab es eine solche Mobilisierung gegen das politische System in den sechziger Jahren“, erklärt Chit. Ein Arzt, der aus Tripoli im Nordlibanon angereist ist, ist überzeugt, dass die Demonstranten ihr Ziel erreichen werden. „Ich werde solange demonstrieren, bis sich was ändert.“

Menschen aller Schichten und Konfessionen nahmen an der Demonstration teil.
Andere sind da skeptischer. Eine junge Modedesignerin, die im Mercedes an der Straßensperre darauf wartet, dass die Demonstranten vorbeiziehen, glaubt nicht an die Revolution: „Klar, ich unterstütze die Idee. Aber die schaffen es doch eh nicht, das System zu ändern.“

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