Montag, 23. Mai 2011

Nakba-Tag in Majdal Schams: Aus dem Dornröschenschlaf gerissen

Aus Majdal Schams berichtet Mai-Britt Wulf
Am diesjährigen »Nakba-Tag« geschieht auf dem Golan das Undenkbare: Demonstranten durchqueren ein Minenfeld und trotzen dem israelischen Sperrfeuer. Bei den Golan-Drusen keimt Hoffnung, eines Tages wieder zu Syrien zu gehören.


Seite an Seite flattern die syrische und die palästinensische Flagge im Wind. Darüber hängt das Bild von Baschar al-Assad, dessen Regime die Golan-Drusen momentan in zwei Lager spaltet. Im vergangenen Monat gab es zum ersten Mal in der Geschichte der besetzten Golanhöhen einen Protest gegen den syrischen Herrscher. Zur gleichen Zeit fanden Demonstrationen statt, um Unterstützung mit Assad zu bekunden.

Der syrische Nationalfeiertag galt in der Vergangenheit als großes Event in Majdal Shams. Dieses Jahr fiel er aus. Die Golan-Drusen die immer den Anschein erweckten, sie ständen dem Assad-Regime loyal gegenüber, zeigen nun, dass auch innerhalb ihrer Gemeinschaft der Rückhalt für Baschar al-Assad zu bröckeln scheint. Trotz dieser politischen Meinungsverschiedenheit und dem Leben unter jahrzehntelanger israelischer Besatzung fühlt sich die Mehrheit der Bewohner des Golans immer noch zu Syrien zugehörig.

Auf gelben und grauen Plastikstühlen sitzen die religiösen Oberhäupter der Drusen vor einem Mikrofon. Die Scheichs tragen schwarze Plunderhosen und weiße Kopftücher.  Sie sind zusammengekommen, um mit den Demonstranten auf der anderen Seite dem »Tag der Nakba« zu gedenken. Sie unterhalten sich leise und warten auf den richtigen Zeitpunkt, ihre weisen Worte zu sprechen.

»Die syrische Braut« in Echtzeit

Auf der anderen Seite reihen sich scheinbar endlose Schlangen von Bussen über die Bergkette. Die Sprechchöre der Demonstranten wehen hinüber. Wir sind am »Shouting Hill«, an dem Ort, wo der Film »Die syrische Braut« gedreht wurde. Dort, wo die Bewohner des Golans über Megaphone, vor der Zeit der Mobiltelefone, mit ihren Familienangehörigen auf der anderen Seite sprachen. Es sind fast nur religiöse Würdenträger anwesend, der Dorfjournalist und ein paar andere bekannte Gesichter. Niemand hatte erwartet, was als nächstes geschieht.

Plötzlich rennt ein Demonstrant den grünen Hügel runter. Ihm folgen weitere. Mit dem Zoom der Kamera können wir beobachten, dass sie dort mit uniformierten Männern ringen. Doch es nützt nichts. Immer mehr Menschen strömen nach unten. Nun gerät auch Bewegung in die Dorfältesten. Einer greift nervös nach dem Mikrofon und warnt die Menge vor den Landminen.

Doch das Bündel Menschen lässt sich nicht aufhalten. Mit ihren palästinensischen und syrischen Flaggen in der Hand stürmen sie auf den Grenzzaun zu. Auf der anderen Seite haben sich derweil einige Anwohner aus Majdal Schams versammelt. Ungläubig stehen sie am Zaun und rufen in ihre Mobiltelefone. Andere stehen noch mit Plastiktüten, wohl gerade vom Einkauf zurückgekehrt, da und starren verblüfft die überwiegend jungen Männer an, die sich daran machen, den Grenzzaun hochzuklettern. Manche klatschen mit den Demonstranten in die Hände und rufen: »Unsere Seele und unser Blut opfern wir für Dich, Palästina«.

Die ersten haben den Stacheldraht überwunden, während andere die palästinensische Flagge am Zaun befestigen. Sobald sie nun auch den zweiten Zaun hinter sich haben, werden die Palästinenser von den wartenden Menschen umringt. Man umarmt die Neuankömmlinge wie lange nicht gesehene Familienangehörige. Als die ersten nach Wasser rufen, eröffnen die Israelis das Feuer. Ein Junge, etwa 15 Jahre alt und in eine Palästina-Flagge gehüllt, hat in beiden Händen einen Stein. Schwer atmend tänzelt er von einem auf das andere Bein. Innerhalb von Sekunden füllt sich die Luft mit Rauch, es knallen Schüsse, fliegen Steine.

Ein Demonstrant hält ein schlichtes weißes Schild hoch auf dem steht: Ich bin aus Tiberias

Eine Gruppe von Demonstranten, die es über den Zaun geschafft hat, zieht Flaggen schwenkend nach Majdal Schams ein. Auf dem zentralen Platz angekommen fallen einige auf die Knie, küssen den Boden. Andere beten vor der Statue des syrischen Revolutionärs Sultan Pasha al-Atrash, der 1925 einen Aufstand gegen das französische Mandat anführte. Erwachsene Männer weinen. Die Grenze, die jahrzehntelang als unbezwingbar galt und so viele Familien trennt, wurde einfach von einer Gruppe junger Palästinenser nieder gerannt.





Es herrscht eine seltsame Stimmung in Majdal Schams, einem Ort, indem nie etwas zu passieren scheint. Die Bewohner halten sich zurück, blicken neugierig von den Balkons auf das Geschehen hinab oder stehen am Rande des Platzes und beobachten die Menschenmenge. Manche klatschen.

Aber auch die ersten Ankömmlinge scheinen ratlos. Sie wirken ein bisschen verloren. Nicht mal sie scheinen geglaubt zu haben, dass sie es wirklich schaffen. Doch dann feiern sie. Die Männer klettern auf die Steinstatue und befestigen ihre palästinensischen Fahnen an dem Säbel des Sultans. Einer hält ein schlichtes weißes Schild hoch auf dem steht: Ich bin aus Tiberias. Ein anderer trägt einen schwarzen Hochzeitsanzug und tanzt mit seiner Flagge auf dem Dorfplatz. Ihre Stimmen dröhnen durch den Ort: »Das Volk will die Befreiung Palästinas«.

Fahrzeuge des israelischen Militärs rollen langsam die Straße entlang. Kurz vor dem Platz stoppen sie. Auf den jungen Gesichtern der Soldaten lässt sich Ratlosigkeit ablesen. Schließlich ziehen sie sich zurück. Majdal Schams ist von außen abgeriegelt. Militärische Sperrzone. Während die Demonstranten euphorisch feiern, werden die Dorfbewohner ihrem guten Ruf der drusischen Gastfreundschaft gerecht. Sie versorgen ihren Besuch mit Essen und Getränken, ohne sich um die über uns kreisenden Hubschrauber zu kümmern.

»Herzlich Willkommen Brüder! Aber Ihr müsst jetzt gehen!«

Fieberhaft beraten die Scheichs, was zu tun ist. Aus allen Ecken des Dorfes eilen sie auf ihren Gehstöcken heran, die weißen Turbane wehen von dem schnellen Schritt. Im Dorf munkelt man, es würde ein Ultimatum vom israelischen Militär geben. Sollten die Demonstranten nicht binnen zwei Stunden Majdal Schams freiwillig verlassen und nach Syrien zurück gehen, dann würde man sie zum Gehen zwingen.

Als die Entscheidung gefallen ist, wird sie den Demonstranten per Lautsprecher mitgeteilt. Sie seien Brüder und stammen aus einem Volk. Aber die Brüder müssten jetzt wieder gehen. Die Dorfältesten fürchten, dass sie sonst vom israelischen Militär erschossen werden würden. Und sie wollen auch ihr Heimatdorf schützen und nicht in eine Auseinandersetzung zwischen den Palästinensern und dem israelischen Militär geraten.

Die Entscheidung stößt auf Widerstand. Sie haben es soweit geschafft, sie wollen nicht zurück. Einer krallt sich an der steinernen Statue fest. Die Scheichs sichern den Palästinensern ihren Schutz zu. Schließlich siegt die Vernunft. Mit den religiösen Männern vorne an der Spitze zieht ein Zug voller Menschen zur Grenze. Die Dorfbewohner, Kinder, Frauen alle begleiten die Demonstranten. Von den Balkonen werfen alte Frauen Reis auf die Menge, um ihnen eine gute Reise zu wünschen.

An der Grenze zeigt sich ein eindrucksvolles Bild. Die Scheichs bilden einen menschlichen Schutzwall und die Palästinenser gehen friedlich durch die Schneise auf die andere Seite. Drumherum stehen Panzer, schwer bewaffnete Soldaten und von überall sehen die Dorfbewohner diesem kleinen Wunder zu. Als der letzte Demonstrant auf der anderen Seite angekommen ist, ziehen die Soldaten den Zaun wieder hoch und einige der weißverhüllten Männer winken. Die Idylle hält nicht lange an. Auf einmal knallt es und aus der Menge der Demonstranten steigt Rauch auf, Tränengas vermutlich. Die Reaktion: wieder fliegende Steinen.

In den nächsten Tagen gibt es im Dorf kein anderes Gesprächsthema. Die Demonstranten haben mit ihrem Überqueren der Grenze in vielen wieder die Sehnsucht nach Syrien aufflammen lassen. Eine junge Frau sagt mir, dass sich die Bewohner des Golans immer wie Syrer fühlen würden, aber an diesem 15. Mai sei das Gefühl, zu Syrien zu gehören noch stärker gewesen.

Alle gehen wieder zur Grenze um zu beobachten, wie die Soldaten den Zaun flicken. Das Gerücht geht herum, dass sie das Gebiet noch stärker sichern wollen. Als während der Reparaturarbeiten ein Bulldozer durch eine Landmine explodiert, ruft Salman Fakhredeen, ein Menschenrechtsaktivist, den Soldaten zu: »Holt euch doch die Palästinenser wieder, die können euch zeigen, wie man unbeschadet durch das Minenfeld geht.«

1 Kommentar:

Christian M hat gesagt…

Schöner Beitrag!