Donnerstag, 9. Juni 2011

Frühling in Damaskus – Ausschnitte eines Erlebnisberichtes und Versuch einer Deutung

Die folgenden Worte basieren auf persönlichen Erlebnissen der Ereignisse im März bis Mai 2011. Während dieser Zeit hielt sich unser Gastautor Abū Ḥasan (Pseudonym) in Damaskus auf – und erlebte die Atmosphäre in der syrischen Hauptstadt hautnah mit.

Wir schreiben Freitag, den 25. März, an dem ich mich entschloss, in die wichtigste Moschee des syrischen Landes zu gehen, der Moschee der Banī ʾUmayya, der Umayyaden-Moschee im Zentrum der alten Stadt. Ich war gegen 11:20 Uhr dort. Es saßen bereits einige Leute im Gebetsraum, vielleicht sogar: verhältnismäßig viele, immerhin war es erst 25 min vor Gebetsbeginn – aber es war ja auch ein Freitagsgebet. Es war still. Es war wirklich leise. Kein Ton. Alle saßen nur schweigend da. Es wirkte wie gespannte Ruhe. Ruhe vor dem Sturm? Ich vermied direkten Blickkontakt mit anderen, um nicht auffällig oder unsicher zu wirken. Natürlich fragte ich mich die ganze Zeit, wer ist vom Geheimdienst? Bestimmt ein Viertel der Anwesenden. Fragten sich die anderen das Gleiche? Und waren sie deswegen ängstlich? Ich hatte ein Angstgefühl, was passieren würde.

Die ḫuṭba, also die Freitagspredigt, war erinnerungswürdig, wie ich fand, für einen solchen Tag. Es war nicht al-Būṭī, der sprach, der große Religionsgelehrte Syriens – er sei verreist –, sondern ein relativ junger, vielleicht um die 35 Jahre alter ḫaṭīb. Er ,schrie‘ seine Rede in einem doch recht aggressiven und vielleicht drohenden Ton vor den Versammelten vom zentralen minbar aus, was in einer Kirche der ,Kanzel‘ entspräche.

Da diese Rede sicherlich nicht von ihm persönlich erfunden und konzipiert wurde, vielmehr darf man vielleicht erwarten, dass sie ihm vom weltlichen Arm der Macht vorgelegt wurde – gerade in jenen Tagen, als der Aufruhr und Widerstand ,der arabischen Welt‘ auch ,das syrische Volk‘  ergriffen hatte, – erscheint es mir sinnvoll, einen Abriss der Argumentationsstruktur der Freitagspredigt der Umayyaden-Moschee vorzulegen, zeigt die ḫuṭba doch m. E. einen wichtigen Teil des Selbstverständnisses von ,Syrien‘ – der Begriff ,Syrien‘ muss noch gefüllt werden – in der Begegnung der Ereignisse und Entwicklungen im Land.

So fing der Prediger (1.) an, ziemlich ausführlich über ,Syrien‘ zu reden, aufbauend auf Qurʾān 17:1 und der Präposition ḥaula (=„um“) und dass das, was „um (=ḥaula) al-Quds“ (=Jerusalem) liegt, gesegnet sei. Es wurde lange ausgetreten, Koranpassagen, ḥadīṯ und tafsīr, um zu belegen, dass bilād ash-Shām, also Groß-Syrien, eine von Allah besonders auserwählte Gegend sei. Das Volk, das hier lebt, ist besonders von Allah geliebt. Weiter sagte er (2.), dass sich dessen das Volk bewusst sein muss. (War damit impliziert, auch dankbar?). Er kam dann (3.) zum springengen Punkt, indem er allgemein und etwas aus heiterem Himmel sagte, (obwohl zu spüren war, dass die Rede in der einen oder anderen Weise darauf hinauslaufen würde): Reformen brauchen Zeit. (4.) habe ja am Tag zuvor der Präsident Reformen verkünden lassen. Er sei also bereit, etwas zu ändern.

Genannt wurde der übliche Rasterkatalog von Notstandsgesetz über höhere Gehälter und die Zulassung von Parteien. Zu vermissen war bisher in der Predigt (5.) ein sonst immer sehr zentrales Thema, nämlich „die Quelle des Urbösen“. Er fragte: „Woher wisst ihr von den Aufrufen für die Demonstrationen?“ - „Wer hat euch davon erzählt?“ - „Aus dem Internet habt ihr davon erfahren! Ihr schenkt also jemanden Ohr, den ihr gar nicht kennt – denn ihr könnt ja nicht die sehen, die dazu aufrufen!“ Es ging also um die Informationsquellen und den Ort, von dem alles ausging: Israel! Es sei Schuld „an allem“. Es stecke zumindest dahinter, denn das Zentrum, das Aufrufe im Internet zu Unruhen in Syrien verbreitet, liegt in „Israel“. Die USA kamen auch noch vor, er redete eine Weile.

Bis hierher waren vielleicht ca. 25 min vergangen. Von rechts hatte ich bis dahin zweimal eine Art Zwischenruf gehört. Dann ging es plötzlich los. Ich weiß nicht mehr, wie es auftobte: Ich habe den Eindruck, dass zuerst Leute von dem vorderen Teil aufsprangen und nach rechts liefen (ich saß in der Mitte vor dem ʾimām, aber vor der Mittelempore). Aber wahrscheinlich fing doch erst die Gruppe rechts an (ca. 50 Meter von mir), etwas zu rufen. Ich habe es als Protest gewertet. Fast alle sprangen nacheinander innerhalb von 4–5 Sekunden auf und rannten auf sie los. Es wurde geschrien und gebrüllt und gerufen. Plötzlich waren überall Kameras bzw. Mobiltelefone herausgeholt und nahmen die Leute in der Moschee auf.

Ich drängte mich an den Rand des Treibens, in der Mitte der Moschee, an der kleinen Empore (vor der zentralen Gebetsnische) und achtete etwas ängstlich vor der etwas unberechenbaren Situation darauf, bloß nicht meinen Mund aufzumachen, um mich nicht verdächtig zu machen – es wurde gefilmt... Dann kam die ,Gegenfraktion‘ und brüllte etwas gezwängt – man sah es förmlich, wie es aufgesetzt war – die Gegenparole: „Allah, Sūria, Bashār-ū bas“ („Allah, Syrien, Bashār [al-Assad], sonst nichts“!), mit geballten Fäusten auf die anderen zulaufend. Es war ein Durcheinander. Es war aggressiv im Gebetsraum der Moschee, aber nicht unbedingt gewaltsam, es war unberechenbar.

Etwas unschlüssig, was ich tun sollte und wohin ich mich wenden sollte, suchte ich mir einen Platz in der Moschee. Die Unschlüssigkeit beruhte vor allem auf den diversen Männern, die nach anderen Ausschau hielten – nicht sehr freundlich, dafür umso angestrengter, letztere zu finden. Ein Bild habe ich noch vor Augen, als zwei Männer in ein Handy (=Fotoaufnahme) blickten und dann in die Menge spähten. Einer wurde von zwei Männern flankiert  und ohne Gewalt hinausbegleitet, sagen wir: Er ging willig mit – wohl blieb ihm keine andere Wahl?

Am selben Tag auf der Autostrade-Mezze, vor dem Studentenwohnheim, versammelte sich gegen 14:30/ 15:00 Uhr ein Zug von Pro-Präsidenten-Leuten: Fahnen, Bilder vom Präsidenten Bashār al-Assad, Hupen, Jubel. Das ging hin und dann auf der Gegenbahn wieder zurück. Deswegen war auch die Autostrade gesperrt und mein Minibus, in dem ich saß, kam nicht dahin. Ich war am Lachen und mich darüber mokieren, in Gedanken sagte ich mir, das würden wir in Deutschland nach einem Fußballspiel machen.

Ich wollte das schon meiner syrischen Verabredung unter die Nase reiben, aber da hatte ich mich in ihr gründlich getäuscht. Sie fand es super und wollte gleich mitmachen, fragte mich zweimal, was wir jetzt machen wollen, ich meinte, lass uns besser laufen, das geht schneller. Sie wollte lieber mit dem Taxi. Meine Frage nach dem „Warum?“ konnte ich mir bald damit beantworten, dass sie eine starke Sympathisantin des Präsidenten war, stolz auf ihr Land war und mit dabei sein wollte bei dieser Demonstration der Unterstützung. - „Das ist eine so tolle Idee von den Leuten, so etwas zu machen!“ Also nahmen wir ein Taxi und verbrachten darin die nächsten 2–3 Stunden inmitten in einem Zug von Präsidenten-Unterstützern.

Am Anfang war es etwas ungewohnt, auch fühlte ich mich nicht wirklich wohl in meiner Rolle, inmitten einer Sympathie-Manifestation für Präsident Bashār al-Assad zu sein. Nicht weil ich nicht meine eigene Wertung dafür oder dagegen zeigen wollte, nein, vielmehr, da es sich um einen Kampf handelt, der außerhalb meines Einmischungsradius liegt. Schließlich löste sich in mir langsam die Spannung, da ich es innerlich als Außenstehender betrachtete und (mit-)erlebte. Der Taxifahrer spielte eine patriotische CD mit syrischer nationaler Musik auf und ab („Syrien, meine Heimat“, „Das Syrien Assads“, „Arabische Landen gebe ich nicht her“ und dergleichen).

Es war mitnehmende Musik. Marschähnlich. Zum Aufbruch drängend. Sie hüpfte auf der Hinterbank vor lauter Freude hin und her und war einfach nur stolz auf die Heimat, es sei genau das Richtige, den Präsidenten in dieser Situation zu unterstützen, um zu zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter ihm stehe und ihn im Kampf gegen diese zersetzenden Demonstranten beistehe, die das Land korrumpieren und im Ausland ein falsches, ein negatives Bild von Syrien verbreiten wollen.

Demographisch fiel mir auf, dass es vor allem Jungen waren, junge Leute, bis 23 sagen wir einerseits, weiterhin auch hoch bis 30 andererseits, dann aber mit eigenem Auto, ein etwas „cooler“ Stil. Sie waren ganz außer sich. Es hätte ein Fußballspiel sein können. Bilder vom Präsidenten, aber vor allem: Fahnen. Sie hüpften übermütig auf ihren Karren und Wagen und auf der Straße. Ich hatte das Gefühl, sie konnten sich endlich mal austoben, auch etwas „Verbotenes“ tun, nämlich Straßen blockieren und einfach in einer Gruppe sein. Mit den Stunden änderte sich das Bild. Auch Familien kamen hinzu (im eigenen Auto) und auch Autos mit nur Mädels drin. Es war ein gemischteres Bild. Aber irgendwie kein Querschnitt der Bevölkerung. So waren alte Leute nicht unbedingt vertreten, zudem schien es eher die Mittelschicht und die besser Situierten zu sein (Familien mit eigenem Auto; Auto mit Armeekennschildern etc.). Der Umayyaden-Platz (der „Große Stern“ sozusagen, von dem viele Straßen, auch in westliche Vororte abgehen) war wegen des Auflaufs gesperrt, es ging nur unter der Unterführung durch.

Was mir mit der Zeit klar wurde: Es ging um die Heimat. Nicht so sehr um den Präsidenten selbst. Er ist eine Identifikation mit der Heimat. Er steht für die Heimat, hat doch der Großteil der syrischen Bevölkerung nie einen anderen Führer außer aus der al-Assad-Familie gekannt. Bashār al-Assads Bilder waren präsent, ganz klar. Aber noch mehr: syrische Fahnen. Es war die Begeisterung für das Vaterland. Die Mobilisierung für die Demonstration gegen Kräfte, die die Heimat destabilisieren und in eine „unsichere Zukunft“ stürzen wollen. Der Kampf mit allen Kräften gegen das Chaos und die Unsicherheit, die in vielen anderen arabischen Staaten des Nahen Ostens herrschen.

Syrien ist (war?) sicher. Dagegen und gegen das Verlieren des verhältnismäßigen Wohlstandes, d. h. für den Großteil der Bevölkerung keine Sorgen ums morgige Essen zu haben (wobei auch dies durchaus ein prekäres Thema in Syrien geworden ist!), vielleicht sollte man sagen: gegen das Verlieren der relativen Berechenbarkeit mit allem (wenn man sich anpasst) – all das zu verlieren, das trug man an jenem Freitag zu Schau (=demonstrieren). Sicherlich, so stelle ich mir vor, initiiert von Regierungstreuen. Aber da war Elan der Menschen und Hingabe dabei. Sie glaubten daran, wofür sie auf die Straßen gingen.

Ging man in eine der Parallelstraßen zu den Hauptstraßen, so war das Leben normal wie immer. Nichts Besonderes. Es spielte sich also nur auf den 2–3 zentralen Achsenstraßen ab. Gegen Abend 16–18 Uhr war es richtig voll, die Straßen waren verstopft. Bis um Mitternacht waren die Straßen voll.
Als wir nachmittags mit der Freundin essen waren, lief nebenbei im Bistro al-Jazeera. Sie hörte plötzlich, dass es Tote gegeben habe in Derʿā. Da schreckte sie auf, drehte sich hastig zum Kassierer um: „Da gibt es Tote!“ Sie wusste mit der Situation nichts anzufangen. Damit war sie überfordert. Tote will sie doch eigentlich nicht. Blitzschnell beruhigte sie ihr Gewissen: „Ja, wenn sie erschossen wurden, dann haben sie es verdient. Ganz sicher. Denn sie wollten das Land in Zwietracht stürzen.“ Das hat sie sich dann eingeredet. So wirkte sie.

Dies war der Anfang der Proteste und sein Widerhall in der Bevölkerung, so wie ich ihn nach zwei Wochen Erschütterungen in Syrien Ende März erlebte. Schnell wurden die Proteste blutig. Vor allem das Osterwochenende tränkte Syriens Erde mit dem Blut der Söhne jenes Landes; bald auch der Töchter. Der Rückhalt der Bevölkerung dürfte sich beschränkt haben. So war mein Karfreitagsspaziergang durch die Altstadt von Damaskus durch das Zentrum der Stadt ein einprägsames Erlebnis.

Ich lief von einer Patriarchatskirche aus an der Altstadt-Außenmauer entlang durch das Salām-Tor an der schiitischen Moschee (Ruqeiya) vorbei und gelangte von hinten zur Umayyaden-Moschee. Schon an der Außenseite der Moschee kamen mir zwei Männer Mitte 40–50 entgegen, in Lederjacke und diesem für Geheimdienstmitarbeiter typischen Habitus. Sie schauten mich auch aus den Augenwinkeln mit meiner orangenen Plastiktüte in der Hand, in der ein Brot und ein Buch eingewickelt waren, an.

Was ich dann sah, überstieg etwas meine Vorstellungskraft. Der ganze Platz vor der Moschee war voll mit Geheimdienst in Zivil. In Massen; das heißt, immer in Grüppchen, auf Treppen sitzend, miteinander redend. Ich lief dann mal rechts den Block entlang (an den beiden ḥammamāt und der madrasa) vorbei: Busse, hinter Bussen – zum Abtransportieren, und wahrscheinlich auch um Mittäter hinzutransportieren. Der eine oder andere schob sich gerade noch seinen Holz-Knüppel unter die Jacke oder das Jackett.

Ich lief dann Richtung Medḥat-Pascha-Straße, über die verlassenen Straßen hoch zum Kastell, das somit rechts von mir lag. Nur ein oder zwei Bärtige kamen mir mit dem Ruf des Muezzins entgegen. Über den großen Fußgänger-Platz mit jenem Springbrunnen artigen Konstrukt im Zentrum laufend, erblickte ich plötzlich ein langes, schmales „Metallrohr“, das einem der jungen Männer in Zivil, die an den Ecken in mittlerer Entfernung zu mir standen (ca. 30 m), neben den Beinen herunterbaumelte: Es war ein Gewehr. Es war alles ruhig. Es war ja noch vor dem Gebet. Ich ging weiter.

Da standen drei Typen (um die 30 Jahre) mit Gewehren und Munitionsgürteln. Die standen da einfach rum. Mehr machten sie auch nicht. Die interessierten sich auch nicht für mich, als ich da durch lief. Sie sahen nicht brutal aus. Sie sahen skrupellos aus. Abgebrüht. Ganz ruhig. Die standen da ja nur. Sie warteten. Zum Töten. Wofür sonst, oder? Keine Ahnung! Aber warum stellt man Leute mit Gewehren auf die Straße, wenn für kurze Zeit später Menschenansammlungen erwartet werden? Zur Abschreckung. Doch! Das sicherlich. Aber doch nicht nur, oder? Warum kennzeichnet man diese Leute nicht eindeutig und steckt sie in Uniformen, so dass der Bürger sie als Staatskräfte erkennen kann (und nebenbei noch von den „vorhandenen Banden“ unterscheiden kann – aber Unsicherheit schürt Angst, mit verbreiteter Angst kann man besser regieren)?

Ich lief also weiter, rechts zum Kastell, dann auf der großen Straße zum Ḥijāz-Bahnhof an einem Ministerium vorbei, dann vor dem Bahnhof rechts runter zum Merje-Platz (mit der schwarzen Säule in der Mitte). Alles ruhig. Kein Auto. Die Läden alle wie normal auf. Einer zog gerade sein Metallrollo runter. Die anderen warteten wohl gespannt, was kommt.

Was ich dann sah, hatte ich bei dieser ruhigen, gespannten Atmosphäre nicht erwartet: Eine Menschenansammlung von Männern, die alle mit Knüppeln bewaffnet, vielleicht um die 40 Mann, an einer Ecke zusammenstanden, Schlägertrupps; darunter gemischt auch Leute mit Gewehren und ein paar in tiefblau mit der Aufschrift „Police“. Auf dem anderen Bürgersteig waren nochmals um die 40–50 Männer postiert. Bis auf eine kurze, hektische Bewegung einer kleinen Gruppe, passierte nichts. Friedlich. Stand-by. Es war die Atmosphäre und die Unwissenheit vor der Zukunft – der unmittelbaren im Zeitrahmen von Minuten und der mittelbaren, in Zeitdimensionen von Tagen, Monaten, der Zukunft im Allgemeinen –, die diese Situation auf dem Merje-Platz als angespannt und zugleich ruhig (unterdrückt?) wirken ließ.

Die wenigen Händler auf dem Bürgersteig – Prepaidkartenverkäufer, Haushaltsramsch – saßen da ganz entspannt auf ihren Stühlen, von denen mir auch einer angeboten wurde. Nachdem auch nach dem Freitagsgebet die Lage ruhig blieb, menschenleer, zog ich weiter Richtung Westen, lief dabei in einer der Mündungsstraßen des Merje-Platzes an einer Schar von acht bis elf mit Gewehren bewaffneten Schützen vorbei, die an Häuserwänden lässig und entspannt lehnten. Auf der Straße standen die vielen leeren Busse (ca. sieben).


Die Lage beschrieb sich mir so, dass das Regime seine – aus seiner Perspektive – nur allzu natürlichen Vorbereitungen für einen Überlebenskampf traf. Sicherlich noch kein Todeskampf des Systems, aber ein Abwehrkampf von Kräften, die sich gegen die herrschende Herrschaft formiert haben: Sicherheitskräfte in Zivil, was durchaus einem westlichen Verständnis von Demokratie widersprechen kann, indem die Gewalten für den Bürger nicht einwandfrei getrennt zu erkennen sind; das Überschwemmen der Straßen (und der Gebetsräume der Moscheen) mit Anhängern, Prävention im großen Maßstab – Unterdrückung. Die Gewehre wirkten als seien sie alte Modelle. Das System wollte um jeden Preis Ruhe erzwingen. Auch große Teile der Bevölkerung wollen Ruhe.

Am Ostersonntag war ich in einem der Vororte von Damaskus eingeladen, von dem die Straße zurück in die Hauptstadt direkt an Muʿaḍḍamiye vorbeigeht. An jenem Wochenende kamen dort einige Menschen zu Tode. Es war einer der Brennpunkte um Damaskus herum, wo ich mit dem Mikrobus am Sonntag Abend vorbeifuhr. Militär überall. Die Stadt war abgeriegelt. Da standen Panzer. Alte Modelle. Der Ort liegt direkt an der Straße und geht auch weiter ins Hinterland. Das heißt, Häuser reihen sich genau an der Straße entlang auf. Einige Straßen für Autos gehen in den Ort hinein. Dort verschließen, wie gesagt, Panzer mit Soldaten den Weg. Dann gibt es aber noch sehr zahlreiche kleine Gassen, die zwischen einem Haus und dem nächsten in den Ort einführen.

An jeder Gasse stand mindestens ein Soldat! Es handelte sich um Militär wie im Krieg. Soldaten in grünen Kampfanzügen, jeweils mit Gewehr, Helm, einem Rucksack – verschiedene Jungs, älter, jünger. Nicht besonders verbissen, nicht besonders aggressiv, aber auch nicht besonders entspannt vom Gesichtsausdruck her. Einige saßen da und tranken Tee, andere lehnten auf einem Stein und das Gewehr im Anschlag. Es waren unsichtbare sichtbare Linien aufgebaut worden: entweder aus Autoreifen oder einfach aus Steinen, die in einer Linie aufgebaut waren, aus einem aufgestellten Wellblech – bis hierher und nicht weiter. Wer durch wollte, musste seinen Ausweis vorzeigen. Aus dem fahrenden Minibus bekam ich mit, wie der Soldat einen jungen Mann dazu aufforderte; man konnte die Worte an der Lippenbewegung ablesen und sodann griff der Mann zu seinem Portemonnaie.

Da standen teilweise auf der einen Seite der unsichtbaren sichtbaren Grenze Leute, Pärchen, Grüppchen und gingen nicht rüber, und auf der anderen Seite stand auch jemand und bewegte sich nicht (zumindest in dem Moment, wo wir vorbeifuhren) – Bilder, die aus historischen Aufnahmen aus Deutschland bekannt sein dürften. An einer etwas größeren Einfallstraße wurden die Autos kontrolliert. Ich sah einen offenen Kofferraumdeckel. Es würde streng kontrolliert, sagte man mir. Es war beeindruckend, das zu sehen.

Was für ein Aufwand! Alle paar Meter ein Soldat, an jeder kleinen Gasse; da kommt niemand hinein oder heraus, zumindest nur unter abenteuerlichen Umständen. Die Strecke ging sicherlich über mind. 2 km, und wie gesagt zwischen fast jedem Häuserblock führte eine Gasse in den Ort (alle 10–20–30 Meter). Man mag sich nun nicht vorstellen wollen, was denn – gerade in den ersten Tagen und Stunden der Belagerung – innerhalb des Abriegelungrings abgelaufen ist; vor allem nachts und im Morgengrauen. Bei solch einem Aufwand, der zur Kontrolle der Ortschaft betrieben wurde, spielt die Phantasie doch leicht mit, sich vorzustellen, dass Sicherheitseinheiten eines autoritären Regimes in die Häuser eindringen, sie durchsuchen, Leute mitnehmen – willkürlich?

Die Frage, die sich neben der stellt, was eigentlich genau in Syrien vor sich geht, ist die nach dem Verantwortlichen, d. h. der treibenden Kraft dieser Unterdrückungsbewegung. So las man tage- und/ oder wochenlang auf www.tagesschau.de „Assad – der Mann der leeren Versprechen“ oder „Assad – der Schlächter“. Ich denke, die Frage nach der realen Verantwortung von Syriens Präsident Bashār al-Assad – abseits der politischen, die ihn ohne Zweifel trifft und deren Konsequenzen er in seiner Funktion zu tragen hat – scheint durchaus berechtigt, gestellt zu werden.

Bekannt sind die unbekannten Kräfte hinter den Kulissen der syrischen Politik; allen voran die Sippe des Präsidenten, die Geheimdienste, die Armee und die Klientel- und Vetternwirtschaft. Die syrische Politik wird durch den Präsidenten selbst vertreten und durch die Minister der Regierung, sie geben ihr also ihr öffentliches und internationales Gesicht. Die Frage, die sich stellt, ist, ob wirklich Präsident al-Assad die Reformforderungen seines Volkes mit Gewalt unterdrücken wollte. Er selber, studierter Augenarzt in England, war doch besonders zu Beginn seiner Amtszeit ab 2000 sehr reformfreudig.

Irgendwo blieben jedoch seine Bemühungen stecken. Wenn man ihm nicht einen Sinneswandel unterstellen möchte, so müssten wohl äußere Kräfte auf ihn eingewirkt haben. Zu fragen ist auch, inwieweit ,die alte Garde‘, d. h. die seinen Vater (gest. 2000) überlebt haben, in hohen und mächtigen Funktionen sitzend, derzeit Reformen zulassen möchte. Vielleicht wird bei Reformen der Anfang vom Niedergang befürchtet? Präsident Bashār al-Assad hat keine organisch gewachsenen Verbindungen zum Militär, zu den Geheimdiensten und gehört auch nicht zur alt eingesessenen Riege der Baʿth-Partei. Zu bedenken ist weiterhin, dass der Präsident selbst nur wenige Male vor die Kameras getreten ist, um sich an sein Volk zu wenden. Ein in dieser Krisenzeit nicht unbedingt nachvollziehbarer Akt, zumal der Präsident, zumindest bis zu den Anfängen der Proteste Mitte März, eine hohe Popularität genoss. Gibt es Kreise, die evtl. eine allzu starke Kommunikation zwischen Präsident und Volk unterbinden wollen?

1 Kommentar:

M.A. hat gesagt…

Zitat: "Es ging also um die Informationsquellen und den Ort, von dem alles ausging: Israel! Es sei Schuld „an allem“. Es stecke zumindest dahinter, denn das Zentrum, das Aufrufe im Internet zu Unruhen in Syrien verbreitet, liegt in „Israel“. Die USA kamen auch noch vor, er redete eine Weile."

So abwegig ist die Behauptung ja nicht. Angesichts der Berichte über die "lesbische syrische Bloggerin" und der US-Amerikanischen "Schattennetzwerke für Dissidenten" kann man in meinen Augen getrost von massiver ausländischer Einmischung sprechen.

Aber alle Berichte selbst westlicher Medien über diese Einmischung beiseite: Wer wirklich glaubt, dass Tel Aviv seine Finger bei den Protesten nicht auch mit im Spiel hat, der kennt die Realitäten vor Ort nicht. Natürlich sind viele Syrer schon alleine wegen der syrischen Geschichte unzufrieden, man denke nur an die 80er Jahre. Aber Bashar genießt noch immer mehr Rückhalt, als man im Westen zugeben möchte.