II. Zur Islamisierung und Radikalisierung der libanesischen Schi´a: Ein Abriss der Zeitgeschichte
II.1. Im Schatten christlich-sunnitischer Prosperität: Die Schi´a zwischen 1943 und 1958
Die schiitische Glaubensgemeinschaft stellt mit die größte aller 18 staatlich anerkannten Konfessionen im Libanon dar. Als eine in vorwiegend peripheren, ruralen und vom Staat vernachlässigten Gebieten im Süden und Osten des Landes ansässige Gemeinschaft, bildeten die Schiiten in der 1943 unabhängig gewordenen Republik traditionell die wenig gebildete, konfessionell und strukturell am meisten diskriminierte Gruppe im Schatten der prosperierenden, sunnitisch und christlich-maronitisch dominierten, urbanen Gesellschaft der 50er Jahre. Aufgrund des konfessionellen Verteilungsschlüssels im Libanon, der die Schi´a im Vergleich mit anderen Religionsgemeinschaften deutlich unterrepräsentierte, bestanden überdies nur geringe Chancen auf höhere Ämter im Bereich der Politik und Staatsverwaltung.
In diesem Zusammenhang sollte außerdem die Dominanz weniger Zu´ama, semifeudaler Patrone, innerhalb der libanesischen Schi´a berücksichtigt werden, die politische Partizipation der eigenen Glaubensgemeinschaft in keiner Weise förderten. Jene Schiiten, die sich den feudalen Strukturen widersetzten, waren vornehmlich in den säkularen kommunistischen Zirkeln Beiruts engagiert.
II.2. Die Ära des Sayyid Musa Sadr 1958-1978
In zweierlei Hinsicht stellt das Jahr 1958 eine entscheidende Wende in der Entwicklung der libanesischen Schi´a dar: Als die Auseinandersetzungen zwischen nasseristischen, pro-arabischen und prowestlichen Kräften in Folge einer wachsenden Unzufriedenheit unter den libanesischen Muslimen eskalierten, reagierte der damalige Präsident Fouad Shihab, indem er Entwicklungsprogramme für die vernachlässigten, peripheren Regionen des Landes anordnete. Auf diese Weise wurde die Rolle des Staats in diesen Gebieten gestärkt und die Zu´ama, die traditionellen Repräsentanten einer Konfessionsgemeinschaft, verloren zunehmend an Einfluss. Die angesprochenen Reformmaßnahmen trugen unter anderem dazu bei, dass sich die libanesischen Schiiten trotz eines weiterhin sehr geringen Politisierungs- und Bildungsgrades zu „der am intensivsten mobilisierten Gemeinschaft“ entwickelten.
Hauptsächlich ausschlaggebend für die Mobilisierung der schiitischen Gemeinschaft war allerdings das Erscheinen des aus dem Iran stammenden schiitischen Klerikers Sayyid Musa Sadr auf der politischen Bühne des Libanon 1958, der bis 1978 als Mufti im südlibanesischen Tyros wirkte. Ihm gelang es, die bis dahin nach innen gekehrte und gegenüber den Feudalherren unterwürfige schiitische Glaubensgemeinschaft zu politisieren und eine intellektuelle Öffnung herbeizuführen. Dies geschah durch Initiativen im Bereich der Bildung, der Sozialhilfe und der politischen Basisarbeit, die von verschiedenen religiösen Institutionen aus dem Iran großzügig unterstützt wurden.
Sadrs moderater, emanzipatorischer Aktivismus, der gemäßigt islamistischen Leitlinien folgte, forderte eine gerechtere Verteilung von Reichtum und Macht, ohne allerdings die Legitimität des Staats herauszufordern. Mit der Gründung des Hohen Islamischen Schiitschen Rats 1967, dem Sadr als Präsident vorsaß, wurde die schon zu diesem Zeitpunkt größte Glaubensgemeinschaft des Libanon erstmals von staatlicher Seite formal anerkannt. Ein weiterer Meilenstein der politischen Entwicklung der Schi´a im Libanon war die Gründung der „Bewegung der Entrechteten“ 1974, um gegen die Vernachlässigung von ländlichen Gebieten durch die Regierung und um für die Reform des libanesischen, konfessionalistischen Staatssystem zu protestieren.
Indessen hatte sich die Situation für die schitiischen Bauern im Süden des Landes trotz zahlreicher Initiativen Sadrs in den späten 60er Jahren und insbesondere ab 1970 weiter verschärft, als die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO im September 1970 aus Jordanien vertrieben worden war und von nun an hauptsächlich vom Süden des Libanon aus gegen Israel operierte. Israelische Vergeltungsmaßnahmen als Reaktion auf palästinensische Attacken beeinträchtigten die Lebensumstände in der Region schwer.
Neben dem überproportionalen demographischen Wachstum der Schi´a im Libanon war dies die Hauptursache für die weitere Intensivierung der Landflucht und Massenemigration, die bereits seit den 50er Jahren eingesetzt hatte, in die Vororte Beiruts, in das afrikanische und in das arabische Ausland. Auf der Suche nach verbesserten Lebensbedingungen in den urbanen Zentren des Libanon waren allerdings viele Schiiten gezwungen, sich in den Randgebieten der Städte niederzulassen, wo sie fortan neben verarmten palästinensischen Flüchtlingen, die 1948 beziehungsweise 1967 aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, die niedrigste soziale Klasse bildeten.
Aufgrund der allgemeinen Militarisierung der Konfessionsgemeinschaften, die der Beginn des libanesischen Bürgerkriegs 1975 mit sich brachte, veranlasste Musa Sadr die Bildung eines militärischen Flügels innerhalb der „Bewegung der Entrechteten“ mit dem Namen Amal, der anfänglich von der PLO ausgebildet wurde und sich in kurzer Zeit als wichtigster Repräsentant der Schi´a etablierte. Bis 1978 gelang es Sadrs Amal weitestgehend, militärische Konfrontationen mit anderen Milizen zu vermeiden. Im selben Jahr verlor sich auf einer Reise nach Libyen schließlich Musa Sadrs Spur auf rätselhafte Weise, sein Schicksal ist bis heute nicht geklärt.
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