Dienstag, 28. November 2006

Zur Genese von Islamismus und Radikalismus am Fallbeispiel der libanesischen Schi´a zu Beginn der 1980er Jahre Teil 5

Respekt an all die Leute, die sich das alles durchgelesen haben...

IV. Erklärungsansätze für das Entstehen des Islamismus und Radikalismus am Beispiel des Libanon

IV.1. Der sozioökonomische Ansatz

Der sozioökonomische Erklärungsansatz für das Entstehen des schiitischen Islamismus und Radikalismus im Libanon geht grundsätzlich von einer sozial, wirtschaftlich und politisch benachteiligten und somit rückständigen Gemeinschaft aus, deren Siedlungsgebiete sich auf die peripheren und unterentwickelten Gebiete konzentrierten. Andererseits bildete die Schi´a im Zuge der Reformmaßnahmen der frühen sechziger Jahre und der aktivistischen Politik Musa Sadrs die am intensivsten mobilisierte Gesellschaft. Aufgrund der bis dahin semifeudalen Sozialstruktur der Schi´a bewirkte die Urbanisierungsdynamik der sechziger und siebziger Jahre folgenschwere soziale Umwälzungen, die sich durch die unverhältnismäßig hohe Geschwindigkeit des Prozesses verschärften.

Die berufliche Transformation von Bauern in das Proletariat beziehungsweise in das Subproletariat, die mit der Massenemigration in die urbanen Zentren einher ging, entfremdete einen Großteil der Schi´a von den semifeudalen Zu´ama´, die sich weiterhin an ihre überkommenen Privilegien klammerten. Aufgrund des starren, von primordialen Bindungen dominierten politischen Apparats, gekoppelt mit der unnachgiebigen Abgrenzung der Konfessionen, konnte eine politische Ablösung der konservativen Elite nicht vollzogen werden. Der blockierte dynamische Prozess schuf letztlich die Bereitschaft zu politischer Gewalt, wobei diese sich nicht explizit gegen den Staat richtete, sondern lediglich Zugeständnisse für die eigene Gruppierung erlangen sollte.

Dem strukturell schwachen libanesischen Staat gelang es unterdessen nicht, das Vakuum, das der schwindende Einfluss traditioneller Klientelbeziehungen aufgrund der sozialen Transitionen innerhalb der libanesischen Schi´a verursacht hatte, auszufüllen. Folgerichtig versuchten Schiiten durch alternative Artikulationsmöglichkeiten für Repräsentanz und gegen sozioökonomische Ungleichheit zu kämpfen. Auf diese Weise lässt sich die Empfänglichkeit vieler Schiiten für Gruppierungen erklären, die durch systemoppositionelle Veränderungen eine Verbesserung der sozioökonomischen Situation versprachen. Nachdem sich anfänglich überwiegend linksrevolutionäre Gruppen von schiitischer Seite großem Zulauf erfreuten, wandten sich viele Schiiten spätestens ab 1982 radikalen islamistischen Parteien zu.


IV.2. Der kulturalistische Ansatz

Der kulturalistische Erklärungsansatz geht von einer rebellischen Grundhaltung der Schi´a aus, die auf bestimmte religiöse Lehren, Dogmen und weitere kulturelle Determinaten zurückzuführen sei. So erklären die Vertreter dieser These die systemkritische, aktivistische Politisierung der schiitischen Glaubensgemeinschaft und die folgende Radikalisierung islamistischer Gruppen mit der spezifisch schiitischen, theologischen Doktrin. Beispielsweise seien die Schiiten aufgrund der erhöhten Stellung der Imame für religiöse, charismatische Persönlichkeiten besonders empfänglich. Der verherrlichende Märtyrerkult innerhalb der Schi´a habe des Weiteren die Bereitschaft zur Selbstopferung bewirkt und somit das Entstehen radikal-islamistischer Gruppen herbeigeführt, die durch Selbstmordattentate die Situation im Libanon eskalieren ließen.

Gegen diesen Ansatz lässt sich aus historischer Perspektive argumentieren, dass im Vergleich mit der sunnitischen Glaubensrichtung vornehmlich in der Schi´a quietistische Elemente und Symbolträger eine maßgebende Rolle spielten und spielen. Außerdem trat die Schi´a in der Historie keinesfalls grundsätzlich in der rebellischen Opposition auf, sondern übte in Teilen der muslimischen Welt über Jahrhunderte staatstragende Funktionen aus. Schließlich widerlegen zahlreiche säkular orientierte Selbstmordattentäter in Israel/Palästina seit Jahrzehnten, dass das Prinzip der Selbstopferung nicht auf religiöse Gemeinschaften reduziert werden kann.
Die Schwäche des kulturalistischen Ansatzes besteht darin, dass der Islam als starre Buchreligion behandelt wird. Dabei durchläuft jede Religion einen ständigen dynamischen Wandlungsprozess. Diese Dynamik wird in sofern offensichtlich, dass der Islam von seinen Anhängern aufgrund von Wechselwirkungen mit sich verändernden sozioökonomischen Realitäten und politischen Realitäten in regelmäßigen Intervallen neu interpretiert wird.


IV.3. Der Einfluss exogener Faktoren

Dieser Ansatz vertritt die These, dass nicht die Entwicklungen innerhalb der libanesischen Schi´a, sondern die Einflussnahme externer Kräfte sowohl durch die Finanzierung und Bewaffnung ihrer libanesischen Stellvertreter als auch durch die direkte Intervention ausländischer Streitkräfte für die Islamisierung und Radikalisierung der libanesischen Schiiten verantwortlich sei. Im Wesentlichen bezieht sich die Argumentation auf drei Persönlichkeiten beziehungsweise Ereignisse, die eine Islamisierung und Radikalisierung in drei Stufen bewirkten:

Zunächst wird dem iranischen Kleriker Musa Sadr eine zentrale Bedeutung zugewiesen, da dieser die libanesischen Schiiten überhaupt erst mobilisiert, politisiert und in gemäßigter Form islamisiert habe. Der Ansatz geht somit davon aus, dass sich die libanesische Schi´a nicht selbstständig aus ihrer Lethargie im Schatten christlich-sunnitischer Dominanz hätte befreien können.

Des Weiteren habe die Islamische Revolution im Iran 1978/79 die libanesische Schi´a grundsätzlich inspiriert und radikal-islamistisches Gedankengut verbreitet, das aber anfangs nur von einer Minderheit angenommen und umgesetzt wurde. Durch die brutale israelische Okkupationsherrschaft ab 1982 im schiitisch dominierten Südlibanon sei dieses Gedankengut letztendlich auf eine breitere Basis gestoßen und führte durch die zusätzliche finanzielle und militärische Unterstützung islamistischer Gruppen durch den Iran zu einer allgemeinen Radikalisierung der Schi´a.

Obwohl im Fall der libanesischen Schi´a exogene Faktoren zweifellos eine sehr wichtige Rolle spielten, reicht dieser Ansatz nicht aus, um die Islamisierung und Radikalisierung der libanesischen Schi´a zu erklären, da er interne, sozio-ökonomische Transformationen völlig ausblendet und zu sehr auf vereinzelte, wenn auch signifikante Ereignisse, fokussiert. Schließlich begünstigt dieser Ansatz verschwörerische Theorien, die libanesische Kriegsakteure fälschlicherweise als Opfer darstellen.


V. Bewertung und Zusammenfassung der Ergebnisse

Die Schi´a stellte in den ersten Jahrzehnten der libanesischen Republik die konfessionell und strukturell am meisten diskriminierte sowie die politische und ökonomisch am wenigsten integrierte Konfession dar. Ab 1958 entwickelten sich die Schiiten aufgrund staatlicher Reformmaßnahmen und Musa Sadrs emanzipatorischem Aktivismus, der die libanesische Schi´a weitgehend einigte und eine gemäßigte Islamisierung verfolgte, zu der am intensivsten mobilisierten Gemeinschaft, die überdies sozio-ökonomische Umwälzungen in unverhältnismäßig kurzer Zeit zu bewältigen hatte.

Der dynamische Prozess der politischen Emanzipation wurde allerdings durch das konservative, strukturell unterentwickelte politische System und durch den Unwillen der traditionellen Repräsentanten der Schiiten, der semifeudalen Zu´ama´, von überkommenen Privilegien und Machtpositionen abzulassen, blockiert. Der blockierte Wandel bewirkte innerhalb der Schi´a eine erhöhte Bereitschaft zu politischer Gewalt und steigerte die Attraktivität systemoppositioneller Kräfte. Diese Ausgangslage, gepaart mit einschneidenden Ereignissen wie dem Beginn des libanesischen Bürgerkriegs, der israelischen Invasion 1978 und dem mysteriösen Verschwinden der charismatischen Bezugsperson Musa Sadr, veranlassten Rieck bereits ab den frühen 1970er Jahren von „einem Dauerzustand revolutionärer Unruhe“ zu sprechen.

Die Iranische Revolution 1978/79 inspirierte die libanesischen Schiiten in ihrem emanzipatorischen Streben nach Gleichberechtigung im positiven Sinne. Gleichzeitig gab diese Zäsur in der Geschichte der Schi´a radikal-islamistischen Kräften im Libanon neue Impulse, die in der Folgezeit ideologisch und finanziell von der radikalen, iranischen Führung unterstützt wurden. Diese Gruppierungen bildeten aber eine wenig bedeutende Minderheit, die erst mit der zweiten israelischen Invasion 1982 und der sich anschließenden Okkupation von Teilen des Libanon vermehrt Akzeptanz und später breite Unterstützung innerhalb der libanesischen Schi´a fanden.

Somit sind die exogenen Faktoren Israel, das durch die brutale Okkupationsherrschaft eine breitere Akzeptanz und Unterstützung vieler Schiiten von Gewalt bewirkte, und Iran, das radikal-islamistische Tendenzen förderte und zusätzlich schürte, für die Intensivierung und das Ausmaß von radikalem Islamismus im Libanon mitverantwortlich. Allerdings wurden die Grundlagen für radikale Tendenzen innerhalb der Schi´a aufgrund der sozio-ökonomischen Benachteiligungen und des unterentwickelten, auf starrem Konfessionalismus basierenden, politischen Systems geschaffen. Folglich bestätigt sich die These, dass die einzelnen untersuchten Erklärungsansätze für das Entstehen von Radikalismus und Islamismus lediglich bestimmte Phänomene und Prozesse erklären können und nur in Ergänzung ein zufriedenstellendes Erklärungsmuster abgeben. Für den kulturalistischen Ansatz sei angemerkt, dass er zu viele Schwachstellen enthält, um gleichberechtigt angewendet werden zu können.

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